Es gibt Inseln der Vernunft auf dieser Erde

Joseph Weizenbaum zum 85.
Viele Erkenntnisse von Joseph Weizenbaum sind heute Allgemeingut: Computer sind wie alle Instrumente nicht wertfrei. Um den 80. Geburtstag des Informatikers und Computerkritikers rankten sich zahlreiche Feiern und Ehrungen, unter anderem der zweite Doktor honoris causa, diesmal von der Universität Hamburg.

Wer Joseph Weizenbaum besucht, muss in das Nikolaiviertel von Berlin, dorthin, wo sich die Stadt ‘historisch’ gibt und dennoch nur aus rundsanierter DDR-Architektur besteht. Hier bewohnt Weizenbaum eine kleine Wohnung mit einem kleinen Balkon, den Heerscharen von Vögeln aufsuchen. Hier ist Weizenbaum zu Hause, aber das Zuhausesein ist temporär.

In vielen Zeitungen steht, dass der 85-Jährige, der 1936 mit seiner Familie in die USA emigrierte, in seine Heimat zurückgekehrt ist. Ein Satz, der ihn nachhaltig verärgert. ‘Ich lebe hier. Na und? Aber nicht als Zurückgekehrter in die Heimat, das ist Bullshit. Ich habe keine Heimat. In den USA gibt es das Wort nicht, nur Hometown, und wer dort bleibt, hat selbst Schuld. Ich hätte gerne beim Zusammenbruch hier gelebt, mit all den Chancen. Aber 1957, als ich das erste Mal nach Deutschland kam, war es nicht so toll.’

1988 ereilte den seinerzeit emeritierten Professor ein Angebot der Universität Freiburg, das ihn erstmals zum Übersiedeln brachte. ‘Oh, wir waren mit den Kindern im Sommer schon früher hier, in Deutschland, in Österreich, auch auf Besuch bei meinem Bruder. Aber mit Freiburg war es etwas Besonderes. Da habe ich gemerkt, dass ich nicht nach Deutschland zurück will, sondern dass es die Sprache ist. Was mich nach Deutschland zieht, ist die Sprache, und dann ärgert es mich, dass die Sprache so heruntergekommen ist. Nun bin ich hier. Ich stelle mir jedes Jahr die Frage, ob ich noch bleiben soll. Bleibst du noch zwei Jährchen, bleibst du noch ein Jährchen, so etwa. Jetzt habe ich das Gefühl, ich bleibe nicht mehr ein Jährchen.’

Joseph Weizenbaum: ‘Der meiste Schaden, den der Computer potenziell zur Folge haben könnte, hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt.’
Joseph Weizenbaum

Bild: GMD

In Deutschland ist Weizenbaum ein Reisender in eigener Sache. Mit seinen 80 Jahren und dem Ruf als attraktiver Redner bestreitet er immer noch mehrere Vorträge im Monat, die die nicht eben üppige Pension aufbessern. Der Fachmann für Computer Science geht keinem Zwist aus dem Wege und nimmt jede Einladung zu Vorträgen an. ‘Ich weiß, manche laden mich ein, weil sie provokante Sachen hören wollen, so was wie dass Schulen am Netz ein großer Unsinn sind, aber das ist mir egal. Das ist meine politische Arbeit, die ich noch machen kann.’

Angewandte Mathematik
Joseph Weizenbaum wurde am 8. Januar 1923 als zweiter Sohn des Kürschnermeisters Jechiel Weizenbaum in Berlin geboren. Im Jahre 1936 emigrierte die Familie in die USA, wo Weizenbaum erst Mathematik studierte und sich frühzeitig an der Wayne University Detroit mit dem Bau von Computern beschäftigte. ‘Ich wollte schon frühzeitig in eine Richtung, die in eine Art angewandte Mathematik mündet. Als ich zum Wehrdienst eingezogen wurde, wollte ich zu den Kryptographen und Nachrichten entschlüsseln. Das wurde mir als Emigrantenkind versagt, der Bereich war zu sensitiv. So wählte ich das einzige andere Fach auf der Auswahlliste, das in die Richtung ging, die Meteorologie bei der Luftwaffe.’

1950 war Weizenbaum an der Konstruktion eines Computers beteiligt, der für den Test von Raketen-Waffensystemen der U. S. Navy bestimmt war. Danach programmierte er ein Betriebssystem für die Bendix Aviation Company, ehe er bei General Electric von 1955 bis 1963 ERMA entwickelte, das erste Computer-Banksystem seiner Zeit. 1963 begann die akademische Karriere von Weizenbaum am Massachusetts Institute of Technology, wo er als Associate Professor anfing und ab 1970 zum Professor für Computer Science berufen wurde. Erste Meriten erwarb er sich mit Studien zu SLIP (Symmetric List Processor), einer Konkurrenz zu LISP. Der Durchbruch kam, als er auf diesen Studien aufbauend ‘Eliza’ entwickelte, ‘A Computer Program for the Study of Natural Language Communication Between Man and Machine’. Von diesem Programm gibt es heute zahlreiche Nachfolgerinnen wie Alice oder Ella Z.

Eliza erwies sich als das Programm gewordene 100-Dollar-Missverständnis: Was Weizenbaum zu Demonstrationszwecken programmierte, wurde von einigen Menschen für bare Münze genommen, ein Computer, mit dem man sich unterhalten kann. Die Erfahrungen mit Eliza führten Weizenbaum zu Überlegungen, warum Menschen dem Computer eigentlich so vorbehaltlos vertrauten. ‘Eliza ist als Programm incredibly simple, wirklich, hat aber im Herzen einen Punkt getroffen, das macht es ein bisschen kompliziert, nicht der einfache Code. Eliza wurde missverstanden, dass aber ist ein Fehler, der genau in unsere Zeit passt.’

Albtraum Computer
In der Folgezeit entwickelte sich Weizenbaum vom Computerwissenschaftler zum Computerkritiker und folgerichtig zum Kritiker einer Gesellschaft, die Computer produziert und akzeptiert. Der fulminante Einstieg in diese zweite Laufbahn lässt sich auf den Januar 1972 datieren, als in der Hamburger Wochenzeitung Die Zeit Weizenbaums großer Aufsatz ‘Alptraum Computer’ erschien, eine Abrechnung mit der Computertechnik generell sowie der KI-Forschung und dem Mythos vom fehlerfreien Programmieren im Besonderen. Weizenbaum schrieb damals: ‘Der meiste Schaden, den der Computer potenziell zur Folge haben könnte, hängt weniger davon ab, was der Computer tatsächlich kann oder nicht kann, als vielmehr von den Eigenschaften, die das Publikum dem Computer zuschreibt. Der Nichtfachmann hat überhaupt keine andere Wahl, als dem Computer die Eigenschaften zuzuordnen, die durch die von der Presse verstärkte Propaganda der Computergemeinschaft zu ihm dringen. Daher hat der Informatiker die enorme Verantwortung, in seinen Ansprüchen bescheiden zu sein.’

Aus diesem Ansatz entstand 1976 das Hauptwerk von Weizenbaum, ‘Computer Power and Human Reason’, das auf Deutsch unter dem kuriosen Titel ‘Die Macht der Computer und die Ohnmacht der Vernunft’ erschien. In diesem Buch finden sich viele Momente, die später auch ins Bewusststein der breiten Öffentlichkeit drangen, etwa die Beschreibung der Programmiererkultur, die für Außenstehende etwas leicht Irrsinniges hat, oder die Kritik an den Versprechungen der Künstlichen Intelligenz. Sein Anliegen formuliert Weizenbaum so: ‘Ohne Frage hat die Einführung des Computers in unsere bereits hochtechnisierte Gesellschaft, wie ich zu zeigen versuche, lediglich die früheren Zwänge verstärkt und erweitert, die den Menschen zu einer immer rationalistischeren Auffassung seiner Gesellschaft und zu einem immer mechanistischeren Bild von sich selbst getrieben haben.’

Bis heute ist das Buch ein Standardwerk für jeden, der sich mit dem Problemfeld Computer und Gesellschaft beschäftigt. Gebeten, die Hauptaussage von damals zusammenzufassen, antwortet Weizenbaum im Interview: ‘Computer sind wie alle Instrumente nicht wertfrei, sondern erben ihre Werte von der Gesellschaft, in der sie eingebettet sind. In einer vernünftigen Gesellschaft erfüllen sie möglicherweise viele nützliche Funktionen, doch bis dahin müssen sie kritisch betrachtet werden. In einer hoch militarisierten Gesellschaft, wie es die USA jetzt sind, sind sie Mordinstrumente. Dabei ist unbestritten, dass sie nützlich sein können, wenn man sich zum Beispiel Kernspintomographen anschaut.’

Misthaufen
Wie einflussreich Weizenbaums Computerkritik gewesen ist, mag eine Anfrage des MIT belegen, nach der das gesamte Buch unverändert in Neuauflage erscheinen soll, weil ein dringender Bedarf besteht: ‘Ich würde darauf ein ganz kleines Ja geben wollen. Es ist wirklich so, dass ich an jedem Tag daran denke und in meinem Kopf daran schreibe, was man ‘30 Years later’ nennen könnte. Wenn schon drucken, habe ich dem MIT geschrieben, dann mit einem Vorwort, was sich geändert hat, vielleicht auf 80 Seiten. Es hat sich viel geändert und ist doch gleich geblieben. Ich habe ein komplettes Outline geschrieben und ihnen geschickt.’ Auf die Frage, was ihn hindert, kommt eine spöttisch-belustigte Antwort: ‘Ich bin faul’, mit einer langen, nachdenklichen Pause. ‘Ja, es ist eine wichtige Frage. Ich schreibe es nicht, ich weiß es nicht. Vielleicht will es doch keiner wissen, was sich geändert hat.’

Viele Erkenntnisse von Weizenbaum sind heute Allgemeingut, etwa die These, dass Computer nicht verschwinden, nur eben sehr klein werden. ‘Ja, das ist doch nicht schwierig gewesen, dies vorherzusagen. In 10 oder 15 Jahren sind Computer aus unserem Bewusstsein verschwunden. Wir werden einfach nicht darüber reden, wie über die zahlreichen Elektromotoren, die uns umgeben, wie hier an der Musikanlage, wo die CD rausfährt.’ Mit seinen Beispielen bleibt Weizenbaum in seiner Zeit: Gerne führt er die Vielzahl der Servo- und Elektromotoren an, bei deren Ausfall ein Blutbad auf den Straßen entstehen würde. Dabei könnte er sich auf den Computer beziehen. Längst sind heute Embedded Systems überall anzutreffen und könnten bei Ausfall ebenfalls Blutbäder anrichten.

Nach einer wissenschaftlichen Untersuchung von Semico Research markierte das Jahr 2000 eine Wende besonderer Art: Seitdem ist jeder Mensch in industrialisierten Ländern von durchschnittlich 250 Controllern umgeben. Weizenbaum hat Recht behalten. Längst sind die deutschen Schulen am Netz, haben viele Eltern Computer angeschafft, doch sind die Lehrpläne und Curricula unverändert schlecht. Auch mit der Kritik an der Computerisierung der Schulen lag Weizenbaum richtig. Doch hat sich die Euphorie dieser Bewegung verflüchtigt, genauso wie das fixe Zusammenrechnen von Internet und Computer zur Wissensgesellschaft schon nostalgisch zu werden droht. ‘Natürlich habe ich das Internet einen Misthaufen genannt. Es geht nicht darum, dass wir etwas nicht wissen, weil wir es nicht finden können. Es gibt Inseln der Vernunft auf dieser Erde, in einem Meer des Blödsinns. Hier müssen wir stehen und Brücken bauen, auf dass einmal ein Kontinent der Vernunft entsteht. Daran kann jeder mitarbeiten, ob er oder sie die Technik entwickelt oder einfach nur benutzt.’ (jk)